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Gerichtsentscheidungen zum Prüfungsrecht

Auf die Bedeutung des Überdenkungsverfahrens weist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.04.2019 (6 C 19/18) deutlich hin:

Das Überdenkensverfahren kann nicht aufgrund einer von den Prüfern abgegebenen schriftlichen Begründung der Bewertung der mündlichen Prüfungsleistung als entbehrlich angesehen werden. Hierfür sprechen die unterschiedlichen Zwecke, die mit der Begründung einerseits (aa)) und dem Überdenkensverfahren andererseits (bb)) zum Schutz des Grundrechts auf freie Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) verfolgt werden. Während die Begründung dazu dient, dem Prüfling die Erhebung von Einwendungen zu ermöglichen, soll das Überdenken eine Kontrolle der Bewertungen anhand der Einwendungen durch die Prüfer selbst eröffnen:

23aa) Der effektive Grundrechtsschutz verlangt zunächst, dass die Prüfungskommission die Bewertung einer berufsrelevanten Prüfungsleistung begründet und die tragenden Erwägungen darlegt, die zu ihrer Bewertung der Prüfungsleistung geführt haben. Der Grundrechtsschutz umfasst einen Informationsanspruch des Prüflings, der sich auf eine angemessene Begründung der Prüfungsentscheidung richtet, das heißt auf die Bekanntgabe der wesentlichen Gründe, mit denen die Prüfer zu einer bestimmten Bewertung der Prüfungsleistungen gelangt sind. Die maßgeblichen Gründe müssen zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den für das Ergebnis ausschlaggebenden Punkten erkennbar sein. Dieser Informationsanspruch soll den Prüfling in den Stand versetzen, diejenigen Informationen zu erhalten, die er benötigt, um feststellen zu können, ob die rechtlichen Vorgaben und Grenzen der Prüfung, insbesondere der Beurteilung seiner Leistungen, eingehalten worden sind (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 15. Juli 2010 – 2 B 104.09 – juris Rn. 5, 8 und vom 8. November 2005 – 6 B 45.05 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 408 Rn. 6, jeweils m.w.N.).

24Das Begründungserfordernis gilt sowohl für schriftliche als auch für mündliche berufsbezogene Prüfungsleistungen. Während sich allerdings die wesentlichen Gründe der Prüfungsentscheidung bei schriftlichen Prüfungsleistungen regelmäßig aus den schriftlich fixierten Korrekturbemerkungen der Prüfer ergeben und der Prüfling auf die Einsicht in die Prüfungsakten verwiesen ist, hängt der Informationsanspruch des Prüflings bei mündlichen Prüfungsleistungen von einem entsprechend spezifizierten Begründungsverlangen ab (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 6. September 1995 – 6 C 18.93 – BVerwGE 99, 185 <191 f.>). Begehrt der Prüfling ungeachtet einer bereits im Anschluss an die Prüfung gegebenen mündlichen Begründung die Abgabe einer schriftlichen Begründung der Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistung, um konkrete Einwendungen gegen seine Bewertung vorbringen zu können, ist dem Informationsanspruch des Prüflings nachzukommen, damit der Prüfling ein Überdenken der fachlichen Einschätzungen und Wertungen der Prüfer veranlassen kann.

25bb) Demgegenüber eröffnet das anschließende Überdenkensverfahren den Prüfern innerhalb des ihnen zustehenden prüfungsrechtlichen Bewertungsspielraums die Möglichkeit, ihre frühere Bewertung in fachlicher Hinsicht und in Bezug auf die prüfungsspezifischen Wertungen anhand der substantiiert erhobenen Einwendungen zu überdenken. Das Überdenkensverfahren stellt den mit Blick auf den effektiven Schutz der Berufsfreiheit erforderlichen Ausgleich dafür dar, dass den Prüfern bei prüfungsspezifischen Wertungen ein gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbarer Spielraum eingeräumt ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 9. Oktober 2012 – 6 B 39.12 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 417 Rn. 5 und vom 5. März 2018 – 6 B 71.17 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 429 Rn. 10, jeweils m.w.N.).

26Das Überdenken dient nicht dazu, eine vollständig neue Bewertung vorzunehmen. Vielmehr handelt es sich um eine inhaltlich beschränkte Nachbewertung: Der Prüfer darf das komplexe, im Wesentlichen auf seinen Einschätzungen und Erfahrungen beruhende Bezugssystem, das er der Bewertung zugrunde gelegt hat, nicht ändern. Er hat sich auf der Grundlage dieses Bezugssystems mit Blick auf die vom Prüfling erhobenen Einwendungen lediglich mit den beanstandeten Einzelwertungen auseinanderzusetzen. Er muss entscheiden, ob er an diesen Wertungen festhält, und dies begründen. Ändert er eine Einzelwertung, weil er den Einwendungen Rechnung trägt, muss er weiter entscheiden, ob dies Auswirkungen für die Benotung hat (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1994 – 6 C 4.93 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 334 S. 34, 36 f.; Beschlüsse vom 11. Juni 1996 – 6 B 88.95 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 368 S. 142, vom 15. Juli 2010 – 2 B 104.09 – juris Rn. 10 und vom 19. Mai 2016 – 6 B 1.16 [ECLI:DE:BVerwG:2016:190516B6B1.16.0] – juris Rn. 14). Aufgrund dieses Zwecks muss jeder Prüfer seine Bewertungen eigenständig überdenken, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass die Prüfer in jeweils unterschiedlichem Umfang die vorgebrachten Einwendungen für begründet bzw. unbegründet erachten (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Februar 1993 – 6 C 35.92 – BVerwGE 92, 132 <137> und vom 30. Juni 1994 – 6 C 4.93 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 334 S. 34, 36 f.; Beschlüsse vom 15. Juli 2010 – 2 B 104.09 – juris Rn. 10 und vom 9. Oktober 2012 – 6 B 39.12 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 417; grundlegend: BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 – 1 BvR 419/81 und 213/83 – BVerfGE 84, 34 <45 ff.>). Die Prüfer müssen zu den Einwendungen Stellung nehmen. Der Umfang und die Begründungstiefe, die eine im Überdenkensverfahren abgegebene Stellungnahme aufweisen muss, hängen von der Substanz der im konkreten Fall vorgebrachten Einwendungen des Prüflings ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. September 2016 – 6 B 14.16 [ECLI:DE:BVerwG:2016:210916B6B14.16.0] – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 426 Rn. 11).

27b) Die Revision ist nicht zurückzuweisen, weil sich das angefochtene Urteil auch nicht aus anderen Gründen gemäß § 144 Abs. 4 VwGO als richtig darstellt.

28Voraussetzung für den Anspruch auf Durchführung des Überdenkensverfahrens ist, dass der Prüfling gegen einzelne prüfungsspezifische Wertungen substantiiert Einwendungen erhebt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1994 – 6 C 4.93 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 334 S. 34). Als unsubstantiiert können Einwendungen nur dann angesehen werden, wenn sich der Prüfling nur generell gegen eine bestimmte Bewertung seiner Prüfungsleistung wendet und etwa pauschal eine zu strenge Korrektur bemängelt (BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1993 – 6 C 35.92 – BVerwGE 92, 132 <138>). An das notwendige Maß der Substantiierung von Einwendungen sind keine hohen Anforderungen zu stellen, da sonst der durch das Überdenkensverfahren gewährleistete verfahrensrechtliche Grundrechtsschutz leerzulaufen droht. Es reicht aus, wenn der Prüfling mit seinen Einwendungen in Bezug auf einzelne prüfungsspezifische Wertungen die Begründung der Prüfer in Zweifel zieht. Der effektive Grundrechtsschutz gebietet in der Regel, aufgrund von Einwendungen des Prüflings das Überdenkensverfahren durchzuführen.

29Weder die Prüfungsbehörde noch die Verwaltungsgerichte im Rahmen ihrer gerichtlichen Kontrolle sind ermächtigt, substantiierte Einwendungen selbst auf ihre Berechtigung zu überprüfen oder in größerem Umfang vorgebrachte Einwendungen, die nur in Teilen substantiiert sind, in dem Sinne „vorzustrukturieren“, dass sie die substantiierten Einwendungen herausfiltern und diese isoliert der Prüfungskommission vorlegen (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2010 – 2 B 104.09 – juris Rn. 13). Vielmehr haben allein die Prüfer sich mit sämtlichen Einwendungen auseinanderzusetzen.